21.05.23 – 16.07.23
Führungen: Ab dem 16. Juni, freitags um 17:00 Uhr
GRUßWORT
Liebe Tübinger_innen,
wenn man den Tübinger Bahnhof Richtung Südstadt verlässt, kommt man gar nicht umhin, sich mit den markanten, in Dreiecken angeordneten Bauzäunen auseinandersetzten zu müssen, die nun schon zum zweiten Mal für zwei Monate auf dem Thiepvalplatz stehen. Besonders eindrücklich finde ich, dass es dem Fotografie-Festival BLICKFELD PHOTO OPEN AIR mit diesem einfachen, wirkungsvollen Konzept gelingt, die zeitgenössische Fotografie aus den Galerien und Museen heraus in den öffentlichen Raum zu bringen – und damit auch ein Publikum für Kunst zu begeistern, welches sonst nicht aktiv den Weg in die Ausstellung sucht.
Das Motto der diesjährigen zweiten Ausgabe des Festivals, „Dualität“, weiß besonders zu überraschen, steht es der Anordnung der Bilder in Dreiecken ja auf dem ersten Blick diametral entgegen. Die Beiträger_innen von BLICKFELD 2023, teils bekannte regionale Künstler_innen, aber auch internationale Gäste, zeigen mit ihren jeweiligen Dreier-Ensembles, wie fruchtbar eine künstlerische Auseinandersetzung mit solch einem theoretischen Spannungsfeld ist und dass dies gar nicht abstrakt sein muss, sondern auf einer Bildebene vermittelt werden kann. Zeichnet sich nicht gerade die Fotografie darin aus, dass sich Dualismen wie Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, Materialität und Immaterialität im Bild als ein Drittes zusammenfinden?
Dass ein Festival dieses Formates vollkommen in ehrenamtlichem Engagement geboren wurde und auch erhalten bleibt, ist für Tübingen ein ganz wertvolles Geschenk. Dank gebührt deshalb vor allem Natalia Zumaran und Werner Trotter für die Organisation, sowie allen zehn Künstler_innen für ihre Beiträge. Ebenfalls danken möchte ich aber auch ausdrücklich der Eigentümergemeinschaft im Thiepvalareal für die Überlassung des Platzes, der WALTER AG als Hauptsponsorin sowie den vielen weiteren Sponsoren, die das Open Air unterstützen. Ihnen, liebe Besucher_innen auf dem Thiepvalplatz, wünsche ich interessante Auseinandersetzungen mit der Fotografie.
Dr. Daniela Harsch
Bürgermeisterin Tübingen
Die Organisatoren möchten ihr Ausstellungsprojekt als „Blickfeld“ nutzen, um speziell die Kunstform der Fotografie einem breiten Publikum näherzubringen. Durch Präsentation im öffentlichen Raum sollen unterschiedliche Besucher*innen angesprochen werden: Sowohl kunstinteressierte Menschen, als auch Menschen, die sich bisher mit Kunst noch nicht oder nur wenig auseinandergesetzt haben oder für die eine Präsentation von Kunst in einem musealen Kontext nicht oder nur schwer zugänglich ist.
Alle Fotokünstler*innen werden auf dem Tiepvalplatz in Tübingen je drei großen Arbeiten zum Thema „Dualität“ präsentieren. Die Fotoarbeiten werden auf Planen gedruckt, die an Bauzäunen befestigt werden. Diese werden als Dreiecke angeordnet, so dass allen Künstler*innen je ein Dreieck zur Verfügung steht, an dem sie ihre drei Arbeiten präsentieren können.
Das Ausstellungskonzept beinhaltet, dass nicht nur „aufgereihte“ Einzelarbeiten präsentiert werden. Durch die Besonderheit des Aufbaus auf dem Thiepvalplatz wird dessen geometrischen Beschaffenheit (Dreiecksform) Ausdruck verliehen. Alle 10 Einzeldreiecke verschmelzen dadurch auf dem Thiepvalplatz inhaltlich und geografisch zu einem großen Dreieck, das für die Besucher*innen begehbar wird.
Das Thema „Dualität“ ist relevant für jeden Menschen: sowohl auf einer globalen, nationalen und lokalen Ebene, als auch einer biografisch-individuellen Ebenen. Die Kunstausstellung soll die Menschen dazu anregen, sowohl die eigenen „Dualitäten“ zu reflektieren als auch die „Dualität“ von anderen Menschen wahrzunehmen und ebenfalls darauf zu reagieren.
„Dualität als Wort definiert, so wie das Wort Singularität einen Teil beschreibt, die Existenz von zwei Kräften. Oft auch umgangssprachlich „Gegensatz“ oder „Gegen- kraft“ genannt. Während in der Einheit noch alles verbunden ist, gibt es in der Dualität das „sowohl als auch“ Prinzip. Hier kann eine Verbundenheit und eine Trennung miteinander koexistieren“.
Im Rahmen dieses Thema werden die Teilnehmer*innen fotografische Aufnahmen aus ihrer Perspektive, ihren Gedanken und persönlichen Erfahrungen darstellen.
Henning Brandes
Der Begriff „Demenz“ hat seinen Ursprung im Lateinischen und bedeutet übersetzt „ohne Geist“. Es handelt sich um eine Schädigung des Gehirns mit komplexen neurologischen und psychiatrischen Phänomenen. Hauptmerkmale dieser Demenzen sind voranschreitende, meist irreversible Verluste und Einschränkungen in den Bereichen des Gedächtnisses, der Lernfähigkeit, des Denk- und Urteilsvermögens, der zeitlichen und räumlichen Orientierung, des sprachlichen Ausdrucks, der Persönlichkeit, des Verhaltens, sowie der motorischen Fertigkeiten und sozialen Beziehungen. Demenz ist eine Form des langsamen, schrittweisen Abschiednehmens. In der Phase in der es noch wache Momente gibt, aber immer wieder ein Zustand der Orientierungslosigkeit und des Vergessens auftaucht, wird das duale Prinzip von anwesend und abwesend zu- gleich besonders deutlich. Der Mensch ist da und trotzdem fern. In der Demenz bildet sich ein menschlicher Innenraum immer deutlicher heraus. Der Kontakt in den Außenbereich wird diffuser, bricht ab, der Innenraum verselbständigt sich.
Die gezeigten Arbeiten versuchen einen Eindruck von Orientierung und Desorientierung zu dokumentieren, aber auch dem Betrachter selbst etwas von dem dualen Wesen der De- menz erfahrbar zu machen. Es werden hier unterschiedliche Bewußtseinszustände gezeigt. Vom Versuch der Kontaktherstellung mit Aufmerksamkeit durch den Schleier der Demenz hindurch ins Außen bis zum Hinabsinken in einen inneren Raum mit einer Mischung aus Wahnvorstellungen und Delirium.
Noch in den wachen Momenten wurde dieses Fotoprojekt mit meiner Mutter diskutiert und von ihr unterstützt.
Andrea Esswein
Ein Mensch. Ein Tier. Mein Kopf. Ein toter Schädel. Meine Haare. Zwei Hörner. Alles direkt auf die Glasplatte des Kopierers gelegt.
Bernd Haussmann
„Dualität spricht vom zweifachen, von der Entzweiung, der Entfremdung vom Einen. Doch in Wahrheit ist alles aus Einem, dem nicht-Dualen. Aus einem Bewusstsein. Aus einem Kern, einer Quelle, einem Samen.
Wenn etwas zwei oder mehrere Seiten hat, steht das immer in Bezug zum Standpunkt des Betrachters. Ist daher immer subjektiv. Das Objekt ist außerhalb des Betrachters.
Wenn Kunst aber von Wahrheit sprechen will oder darf oder kann, muss sie sich vom Prinzip der Dualität lösen und direkt zur Quelle gehen, dem Einen. Damit sie wahr ist.
Wahr kann nur sein, was für alle und für alles gleichsam wahr ist. Auch wenn sich das Eine in unendlicher Vielfalt zeigt.
Die Frage der Dualität stelle ich mir trotzdem gerne und sehe diese, wie die meisten guten Fragen, als Aufforderung, alte Konzepte und Konventionen zu überdenken, zu relativieren und, wenn nötig, zu zerstören. Diese Frage ist auch Hinweisung und Öffnung, die Wirklichkeit über das Denken hinaus direkt zu refahren. So wird Kunst zur wertvollen bewusstseinserwei- ternden Maßnahme.
Kunst verbindet. Kunst vereint, was der Dualismus entzweit hat.“
Monika Müller-Schauenburg
In Liebe, dein Franz…
Familie – gegründet auf ein binäres Geschlechterkonstrukt ohne die Zwischentöne, die sich weder dem männlichen noch weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Definitionen wie z.B. Inter- und Transgeschlechtlichkeit sind eher Hilfskonstruktionen für Menschen, die nicht in das gängige Schema von Mann und Frau passen.
Sprachforscher*innen des Liebesbriefarchivs (Sitz in Koblenz und Darmstadt) stellten
fest, dass Liebesbriefe in elektronischer Form häufig länger sind als handschriftlich verfasste… Wie wird diese Art der Kommunikation aufbewahrt? Verschwindet sie im Daten- Nirvana? Oder ausgedruckt und gebunden mit rotem Band, aufbewahrt für gefühlsselige Erinnerungen?
Fotos einer Familie eröffnen einen Blick auf die Realität, wie sie sich ihr ergab, auf das, was ihr wichtig war. Sie sind ein individuelles und intimes Andenken, gleichzeitig aber auch ein kulturelles, gesellschaftliches Gedächtnis und ein zeitgeschichtliches Abbild.
Joachim Riederer
Dualität „Mensch – Maschine“
Mit ChatGPT, OpenAI und anderen Künstlichen Intelligenzen (KI) eroberte die Maschine die kreativen und künstlerischen Bereiche des Menschen. Sie komponiert Musikstücke, schreibt Novellen oder erschafft Kunstwerke – Gemälde wie Fotografien. Ihre Fähigkeit zu imitieren, geht weit über alles hinaus, was wir bisher gesehen haben. Eine bahnbrechende Technologie mit dem Potential in nur sehr kurzer Zeit die Welt zu revolutionieren. Nicht nur zum Positiven!
Die Entwicklung geschieht bereits schneller als wir reagieren können. Am Beispiel der Fotografie fällt es zunehmend schwerer einen „DeepFakes“ als solchen zu erkennen.
Die drei gezeigten Werke geben Einblicke in meine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema „Mensch-Maschine“. Dabei stützt sich diese Dualität auf die Fragen nach Identität, Bewusstsein und dem Verhältnis von Materie und Geist (Leib-Seele-Problem nach Descartes).
Das getreue Abbild eines Menschen gelingt der KI nicht immer. Oft sind zu lange Gliedmaßen, zu viele Finger oder Augen ohne Pupillen zu sehen. So mancher dieser Fehler findet sich auch in unseren Träumen als Realität wieder. Wenn Sie sich mit luzidem Träumen beschäftigen und es schaffen sollten im Klartraum bewusst Ihre Finger zu zählen, werden Sie vermutlich überrascht sein.
In meinen Arbeiten spiele ich mit diesen Fehlern und empfinde die Künstliche Intelligenz selbst nach.
Ein Kuss ist ein persönliches, inniges Erlebnis.
Was verändert sich, wenn ein Partner den Kuss (zunächst vom anderen unbemerkt) fotografiert?
Während die übergroße Präsentation die Intimität des Kusses öffentlich verrät, wird sie durch die Provokation ablenkender Assoziationen gleichzeitig geschützt.
Jacopo Valentini
Tomatoes and other contents
This photographic triptych, proposed for the Blickfeld 2023 edition, is an excerpt coming from a larger research entitled Tomatoes and
Other Contents, a visual project realized by the author in 2019 during an artistic residency in southern Campania supported by Localedue.
This work deals with an analysis of the landscape near the area of Roccagloriosa, starting precisely from the famous tomatoes that
grow in that area. These are obviously just a red bait, which is used as a starting point.
Duality, this year‘s theme, can also be defined in this way: it is a quality or condition which is composed of two elements or principles.
These elements can be distant both apparently and actually, or they can be visually close, as in this case.
How does the perception of a subject change depending on where it is viewed from? How is the relationship between one or more
elements perceived with respect to their arrangement? These are just two questions that my contribution does not want to answer, but it
definitely wants to think about.
Ken Werner
Das Aua, Wanda Hure, Jane Doom
Ich lebe in Tübingen und bin immer wieder beeindruckt von der Vielfalt dieser Stadt. Vor allem die verschiedenen Subkulturen interessieren, inspirieren und beeinflussen mich.
In meinem Beitrag für diese Gruppenausstellung rücke ich die Drag-Community und beson- ders die Menschen, die diese Kunstform leben, in den Fokus.
Als ich mich Ende 2022 mit meinem Konzept an die Umsetzung machte, konnte ich passend zur Präsentationsform des dreiteiligen Prismas, drei talentierte Drag-KünstlerInnen aus Tübingen gewinnen: Jane Doom, Wanda Hure und Das Aua. Jede Seite ist einer Person und ihrer Persönlichkeit gewidmet, die ich durch zwei Schwarzweißfotografien zeige: ein Bild in Drag und eines ohne, eines mit Blitz und eines ohne. Auf diese Weise greife ich das Thema „dualis“ („zwei enthaltend“) auf mehreren Ebenen auf.
Die Porträts sind in zwei Sessions kurz hintereinander in einem der Tübinger Wohnprojekte entstanden und besitzen eine für mich sehr authentische und intensive Qualität. Ich bin den KünstlerInnen sehr dankbar für das Vertrauen, das sie mir für dieses Projekt entgegen- gebracht haben.
Werner Trotter
Freundinnen, Freunden und Bekannten
„In der erfassbaren Welt verändert sich alles, alles schwingt
Alles ist im Fluss
Nichts bleibt, wie es ist
So sind auch wir.
So sind auch meine Menschenbilder entstanden
Aus vielen Augenblicken
Aus vielen Klicks
Vielen Ansichten, Beziehungen, Stimmungen, Einblicken.
So wie sich alles Weltliche verändert
So verändert sich auch unser Bild davon
So sind auch diese Bilder nicht eindeutig
Ich bin viele Bilder
Ich habe viele Gesichter
Ich bin eine Einbildung
Ich bin eine Person
Ich bin ein Gruppenbild“
Natalia Zumaran
“Innere Dualität”
Im letzten Sommer verbrachte ich viele Stunden an meinen Lieblingsplätzen im Schön- buch. Das leuchtende Grün der Bäume, das beruhigende Rauschen des Windes, aber auch das Dunkel der Schatten, das raschelnde Laub unter meinen Füßen und die fast unheimliche Stille umgaben mich. Diese Vielfalt der Facetten des Waldes war tröstlich für mich, da ich mich selbst in einer tiefen Zerrissenheit befand.
Der Wald war wie ein Spiegel meiner eigenen inneren Dualität. Es war ein Ort, an dem ich meine eigenen Gegensätze erkennen und
anerkennen konnte und gleichzeitig eine Einheit mit der Natur spürte. Ich fühlte, dass ich Teil eines größeren Ganzen war und dass meine Trauer und mein Schmerz in dieser Welt einen Platz hatten.
Im Wald fand ich Trost und Heilung: Ein Ort, um meine eigenen Emotionen zu akzeptieren, ohne mich selbst zu verurteilen. Ich konnte einfach die Schönheit spüren und den Frieden erleben und gleichzeitig die Gefühle von Schmerz und Traurigkeit zulassen.
FOTOGALERIE
MERH BILDER DER VERNISSAGE VOM 21.05.23
Bilder: Henning Brandes
VERNISSAGE VOM SONNTAG 21.05.23
Bilder: Johannes Kübel
AUFBAU DER AUSSTELLUNG
Bilder: Henning Brandes
Wir bedanken uns bei der Eigentümergemeinschaft für die Nutzungsgenehmigung des Thiepvalplatzes und für die freundliche Unterstützung bei der Stadt Tübingen und bei folgenden Firmen / Institutionen:
Natalia Zumaran
Fotografin
+49 (0) 171 2742357
nataliazumaran@gmx.de
www.nataliazumaran.com
Werner Trotter
Fotografie
+49 (0) 160 3678430
dialog@trotter-fotografie.de
www.trotter-fotografie.de
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